Wir Menschen sind Reiz-Reaktions-Maschinen. Alles was wir wahrnehmen wird von uns automatisch entweder als unwichtig ausgeblendet oder es findet als Reiz seinen Weg zu uns und wird ebenso automatisch entsprechend unserer internen Bewertungskriterien für gut oder schlecht befunden. Sind unsere Werte, Bedürfnisse oder Glaubenssätze betroffen folgt der Bewertung oft auch eine emotionale Reaktion, manchmal Freude und Neugier, häufiger Ärger, Wut, Sorge oder Angst. Fast immer tritt auch die sofortige Reaktion ein, durch Wort oder Tat oder beides.
Nur natürlich, dass auch Führungskräfte diesem Reiz-Reaktions-Schema in Führungssituationen unterliegen, denn im Kern ist es ein gutes Schema, welches sogar überlebenswichtig sein kann und dazu noch jede Menge Energie beim bewussten Nachdenken spart. Intuitives Denken und Handeln strengt bekanntlich weit weniger an, als eine Situation / Aussage bewusst zunächst nur zu beobachten, darüber nachzudenken und erst dann darauf - mit Bewertung oder ohne - zu reagieren.
Leider bringt das Reiz-Reaktions-Schema in der Führungsbeziehung eine Reihe von Nebenwirkungen mit sich, die alles andere als hilfreich sind. Es kann schnell in die Eskalation führen, Perspektivwechsel verhindern, den eigenen Horizont einengen, andere Sichtweisen ausblenden, scheinbar einfache oder oberflächliche Lösungen bevorzugen, differenzierte Betrachtungen verhindern, wo sie notwendig sind und sorgt in der Tendenz dazu, dass die möglichen Potentiale aus der Interaktion in der Führungsbeziehung nicht erschlossen werden.
Führungskräfte sollten in einem 1. Schritt erkennen, dass es so etwas wie ein Reiz-Reaktions-Schema überhaupt gibt und sich über das eigene individuelle Bewertungsschema klar werden. Wo liegen meine „roten Knöpfe“? Welche Werte und Glaubenssätze sind mir wichtig? Was bestimmt über meinen inneren Kompass in der Bewertung von Verhalten und Aussagen meines Umfeldes? Welche konkreten Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich auf manche Situationen „allergisch“ reagiere und das andere mich sofort positiv ansprechen?
In einem 2. Schritt sollten Führungskräfte versuchen, dieses Reiz-Reaktions-Schema zu durchbrechen. Die magische hundertstel Sekunde erkennen, die zwischen Wahrnehmung (=Reiz) und Bewertung / Reaktion liegt und dort gedanklich aussteigen, zur Seite treten und zunächst nur wahrzunehmen (=beobachten) und erst einmal möglichst nicht zu bewerten, auch wenn es schwer fällt.
Hervorragend üben lässt sich dieses Durchbrechen des Reiz-Reaktions-Schemas im Straßenverkehr, denn hier sind wir es besonders gewohnt auf Autopilot zu agieren.
Wir beobachten das aus unserer Sicht kritikwürdige Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer nicht nur sondern die Bewertung (und unsere Reaktion) folgt unmittelbar und unwillkürlich.
Vorfahrt genommen, zu spät an der Ampel losgefahren, nicht geblinkt, zu dicht aufgefahren, zu langsam auf der linken Spur, Spur geschnitten, reingepfuscht. Die Reaktion folgt sogleich: Kopfschütteln, Schimpfen, Hupen, Gestikulieren, Anblinken. Manchmal werden innerhalb von Sekunden gleich mehrere Eskalationsstufen übersprungen und manch eine Auseinandersetzung endet mit einer Schlägerei auf dem Standstreifen.
Wenn es der Führungskraft gelingt im geschützten Raum des eigenen Fahrzeugs, das Reiz-Reaktions-Schema mit dem Grundsatz „Nur beobachten, nicht bewerten!“ zu durchbrechen, ist ein erster wichtiger Schritt getan. Womöglich gelingt es sogar statt wütender Emotionen dem anderen Verkehrsteilnehmer Verständnis entgegen zu bringen. Das bedeutet nicht, dass Verhalten gut zu heißen aber es wird zu mehr Gelassenheit und zu einer klareren Wahrnehmung der Situation führen. Zudem erkennt die Führungskraft, dass es möglich ist, den Autopilot abzuschalten. Ich "muss" mich nicht zwingend über jedes Fehlverhalten der anderen aufregen, ich kann sehr bewusst erst beobachten, dann bewerten und dann über meine Reaktion entscheiden und die kann auch in einem Ignorieren oder sogar einem Verzeihen bestehen. Wem dies im emotional geprägten Straßenverkehr gelingt, der kann diese Haltung auch auf die Interaktion im Unternehmen übertragen und damit die Qualität der Zusammenarbeit verbessern.
In jedem Fall hat das Durchbrechen des Reiz-Reaktions-Schemas in den allermeisten Fällen viel Positives zur Folge. Es strengt zwar etwas mehr an und braucht auch etwas mehr Zeit, doch es ermöglicht ein besseres Verstehen anderer Perspektiven und Sichtweisen, es öffnet Horizonte und erweitert den eigenen Handlungsspielraum, es zeigt echtes Interesse und Wertschätzung dem Gegenüber und führt zu weniger Stress und mehr Gelassenheit, nicht jedes Stöckchen, dass uns vorgehalten wird, auch gleich zu überspringen.
Zum Thema „Durchbrechen des Reiz-Reaktions-Schemas“ wie immer 5 Fragen zur Selbstreflektion:
1. Was sind meine wichtigen Bedürfnisse, Werte und Glaubenssätze, die mein inneres Bewertungsschema ausmachen?
2. Wie verhalte ich mich im Straßenverkehr, wenn andere Verkehrsteilnehmer sich nicht so verhalten, wie ich dies von diesen erwarte?
3. In welchen Situationen gelingt es mir in der Regel „nur“ zu beobachten und nicht gleichzeitig zu bewerten?
4. Welcher konkrete Satz würde mir helfen, mein Reiz-Reaktions-Schema zu durchbrechen?
5. Was beobachte ich zu diesem Thema bei meinem Chef und bei meinen Mitarbeitern?
Wie immer wünsche ich viel Glück und Erfolg bei allem, was Sie tun.
Ihr Frank Bönning
Comments